Die Kickers hängen in den Seilen
In der Boxersprache würde man sagen: Die Offenbacher Kickers hängen in den Seilen. Im Heimspiel der
Regionalliga Süd gegen Wacker Burghausen erreichte die Mannschaft von Trainer Hans-Jürgen Boysen ein 2:2,
das für den Aufstiegsanwärter reichlich schmeichelhaft war.
Denn bis zur 77. Minute deutete alles darauf hin, als sollte der OFC nach den Pleiten gegen Reutlingen und
in Wehen zum dritten Mal in Folge besiegt werden. Zu diesem Zeitpunkt führten die Gäste aus Bayern mit 2:0
und das durchaus verdient. Nachdem die Kickers schwungvoll begannen und durch Vollmar (3.), Kolinger (18.),
Stohn (26.) und Dama (36.) gute Möglichkeiten zur Führung vergeben hatten, versetzte das Burghausener 1:0
durch Berger (37.) die Gastgeber in einen kollektiven Schockzustand. Boysens Team wirkte in der Folgezeit
wie gelähmt, zumal die Gäste kurz nach der Pause mit dem 2:0 durch Greilinger, dem grobe Schnitzer von
Köpper und Dietmar Roth vorausgegangen waren, weiteres Salz in die wunde Kickers-Seele streuten (53.).
Was dann folgte, "war die schwerste Halbzeit, seit ich in Offenbach bin", meinte Boysen später. Erstmals
entlud sich die Wut der Fans in Sprechchören gegen die eigene Mannschaft. Von "wir wollen euch kämpfen
sehen", über "Boysen raus" bis hin zu "aufhören" reichte die Palette der Unmutsäußerungen, wobei der
OFC-Coach die Aufforderung zu mehr Einsatz nicht nachvollziehen konnte, da sich sein Team seiner Meinung
nach gegen die Niederlage "mit Vehemenz gewehrt hat."
In der Tat vermochte der OFC in der Endphase noch einmal die Kräfte zu bündeln und kam durch einen von Dama
verwandelten Handelfmeter (77.) zum 1:2 und durch den eingewechselten Stefan Simon zum Ausgleich (87.). Doch
die beiden Treffer konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Tabellenzweite spielerisch vieles schuldig
blieb und es einigen Glücks bedurfte, um die Niederlage abzuwenden.
Dennoch stand für Boysen fest, "daß wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren." In der momentanen
Verfassung dürfte es dem OFC aber schwerfallen, die Ansprüche zu realisieren. Denn außer dem ordentlichen
Debüt des jungen Necip Incesu aus der Zweiten Mannschaft, den Boysen aufgeboten hatte, "um ein Signal zu
setzen, daß der eine oder andere eine Schippe drauflegt", gab es aus der Vorstellung des OFC wenig
Positives herauszufiltern.
Die Forderungen des Klaus Gerster
Am Tag danach sah sich Hans-Jürgen Boysen bestätigt. "Das ist wieder mal ein Beispiel dafür, daß im Fußball
alles erst gespielt werden muß", antwortete der Trainer von Kickers Offenbach auf die Frage, welche
Gedanken er gehabt habe, nachdem er in Neukirchen das 1:1 des Tabellenführers SV Waldhof Mannheim
beobachtet und hinterher erfahren hatte, daß der SSV Reutlingen, den viele nach dem 2:2 des OFC tags zuvor
gegen Burghausen als neuen Tabellenzweiten erwartet hatten, in Augsburg erstmals nach 19 Spielen ohne
Niederlage wieder gestolpert war. Er ziehe eben keine voreiligen Schlüsse, ließ der 41 Jahre alte
Fußball-Lehrer verlauten, um erneut zu bekräftigen, "daß wir es nach wie vor aus eigener Kraft schaffen
können."
In der Tat waren die Offenbacher noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, weil die Konkurrenz die
Schwächen des Tabellenzweiten nicht zu einem entscheidenden Vorteil hatte ummünzen können und sich die
Situation des OFC im Aufstiegsrennen nicht verändert hat. Doch so sehr sich die Verantwortlichen hinterher
bemühten, dem erneuten enttäuschenden Resultat positive Aspekte abzugewinnen, indem sie den Kampfeswillen
der Mannschaft lobten und das schmeichelhafte Unentschieden "als sehr wichtig für die Moral" (Boysen)
einstuften. Sie konnten nicht wegdiskutieren, daß der OFC im Frühjahr 1999 meilenweit von der Form und der
Souveränität entfernt ist, die ihn auf den Favoritenschild für den Meistertitel und den Aufstieg in die
Zweite Liga gehoben haben.
Daß sich am Auftreten des OFC bis zum nächsten Spiel am kommenden Samstag beim FC Schweinfurt etliches
ändern muß, stand auch für Manager Klaus Gerster fest. Die Mannschaft müsse jetzt handeln, "denn wer nicht
handelt, der wird behandelt", lautete seine unmißverständliche Forderung. Gute Mannschaften zeichne die
Fähigkeit aus, "ein Spiel wie das gegen Burghausen abzuhaken und im nächsten wieder bei null zu beginnen",
so Gerster, der die Spieler des Tabellenzweiten in Schweinfurt "selbstbewußt und frech" auftreten sehen will.
"Wir müssen dort auflaufen und jeder Spieler muß auf der Stirn das Wort Sieg stehen haben." Die
fußballerischen Möglichkeiten zur Umsetzung der hochgesteckten Ziele besitze der OFC zweifellos, so Gerster.
"Wir haben die Mannschaft mit der meisten Substanz in der Liga."
Diese wieder in vollem Umfang zu entfalten, darin liegt nun die vordringliche Aufgabe der
OFC-Verantwortlichen "Schwierige Situationen zu meistern, ist auch eine Herausforderung", meinte Gerster,
der ohnehin der Ansicht ist, "daß Meisterschaft und Aufstieg nicht vor dem letzten Spieltag entschieden
werden." Von Rechenspielen hält der Kickers-Manager in diesem Zusammenhang überhaupt nichts: "Keiner braucht
jetzt rechnen", meinte er, "rechnen gehört in die Schule und nicht auf den Fußballplatz."
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